Der Schrecken von Hidrolândia

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Studio Urzeda

Der Schrecken von Hidrolândia: Die Lehmleichen

Der Schrecken von Hidrolândia - Urzedas Erzählungen - Eber Urzeda dos Santos - 1

Tauche ein in die Erzählung Der Horror von Hidrolândia, eine Geschichte, in der sich Mystery und Übernatürliches in den nebligen Fluren einer Schule begegnen. Zwischen Kindheitsängsten und Reflexionen über psychische Gesundheit stellst du dich den rätselhaften Lehmleichen in dieser atemberaubenden Geschichte. Viel Spaß beim Lesen!

— Eber Urzeda dos Santos

aus dem Portugiesischen übertragen und literarisch bearbeitet

Fliehen war einfach. Schwer war es, sich einzugestehen, dass es Angst war. Feigheit vielleicht — ein Wort, das ich mit Widerwillen gebrauche, weil es sich an einen haftet wie trockener Lehm, den nicht einmal Schmierseife ablöst. Aber ich werde nicht lügen: Ich bin geflohen. Mit gesenktem Kopf, einem Herz, das stolperte, und einer Seele aus Flicken zusammengenäht.

Die Angst hatte Gestalt. Und Geruch. Und eine Art, durch die Ritzen im Haus zu flüstern, sich unter Betten zu verstecken, an den Wänden aufzutauchen, in Spiegeln, in Träumen. Sie schaute mich aus dem Schatten heraus an. Hauchte mir in den Nacken, kalt wie der Wind, der alte Geschichten aus Goiás erzählt — Geschichten aus dunklen Zeiten, die niemand hören will.

Am Ende blieb mir nur eins: das Schreiben. Ich setzte mich an den Tisch, das Papier unter meinen zitternden Fingern, und ließ die Worte heraus wie ein verletztes Tier. Nicht aus Eitelkeit, nicht um jemandem zu gefallen — sondern um zu sehen, ob es weniger weh tat. Jede Zeile ein Versuch, die Wunden zu vernähen, von denen ich nicht mehr wusste, ob sie meine waren oder die der Stadt.

Aber ich schreibe auch, um zu warnen. Denn manchmal ist das, was man Legende nennt, nur eine Wahrheit, die aus Scham begraben wurde. Der Ribeirão das Grimpas… ist nicht bloß ein Bächlein. Er ist ein offener Schlund im Boden der Stadt. Und er hat Hunger. Wer hineingeht und meint, gereinigt herauszukommen, verlässt ihn als ein Stück Mensch weniger.

Also hört zu — nicht nur mit den Ohren, sondern mit der Stille des Körpers: Lasst niemanden dort baden in dem Glauben, schmutziges Wasser spüle den Schmerz hinweg. Es gibt Schmerzen, die ändern nur ihre Form.

Ich muss ein wenig aus meiner Kindheit erzählen — nicht aus Nostalgie, weit gefehlt. Sondern weil manche Erinnerungen sich weigern zu sterben. Und ohne sie könnte alles, was ich gleich berichten werde, übertrieben erscheinen. Irreal. Erfunden. Aber das ist es nicht.

Ich weiß nicht, ob das, was ich damals erlebte, direkt mit den Dämonen zu tun hat, die später kamen, oder ob alles schon damals da war — getarnt im Schweigen der Nächte, in denen ich mich von einer Seite zur anderen wälzte, das Atmen des Hauses lauschend. Ich weiß nur: Die Dunkelheit schien lebendig. Und die Geräusche der Nacht ergaben eine Musik, die niemand hören wollte: die Sinfonie der Angst.

Vielleicht begann es noch früher. Mit kalten Gesten, zu klein, um sie Gewalt zu nennen, aber gezielt genug, um im Brustkorb eine Narbe zu hinterlassen. Dinge, die mein Vater sagte — mit leiser Stimme. Dinge, die nicht verblassen.

Es war meine letzte Woche in der vierten Klasse. Ich hätte glücklich sein sollen, Abschied nehmend von diesem seltsamen Gebäude mit seinen himmelblauen Wänden und dem ständigen Geruch von feuchtem Jasmin. Aber alles dort schien falsch. Als wäre die ganze Schule krank — oder verflucht.

Am Ende des Unterrichts, wenn die letzte Glocke läutete, veränderte sich die Schule. Als würde das Licht müde werden. Die Schatten streckten sich durch die Flure. Ein dichter Nebel kroch empor, als würde die Erde selbst ihren Unmut und ihre Wut gegen jene ausstoßen, die täglich auf ihr herumtrampelten.

Doch dieser Nebel war anders. Nicht der feuchte, den man am frühen Morgen auf dem Feld sieht. Er war schwer. Schmutzig. Hatte Farbe — ein tiefes, dickes Schwarz, wie Ton vom Grund des Bachs. Derselbe Ton, der die Ufer des Ribeirão das Grimpas bedeckte, wo niemand badete, ohne vom Unglück des Sumpfes gezeichnet zu sein.

Und dann verschlang er alles: die Dächer, die sauberen Fliesen, den Hof mit seinen Flecken auf dem ausgewaschenen Zement. Die Stadt schien die Schule mit diesem lebendigen Nebel auslöschen zu wollen — in einem verzweifelten Versuch, das zu verbergen, was dort geschah.

Außerhalb der Tore ging das Leben weiter — auf seltsame Weise. Der Bus aus der Hauptstadt kam, die Menschen stiegen langsam aus, mit Gesichtern, als hätten sie unterwegs etwas Schlimmes gesehen. Sie sahen zu Boden. Zur Seite. Aber nie zur Schule.

Niemand wagte es, diesen Ort anzusehen, aus dem die Schatten kamen. Das war heilig. Als könne schon der Blick etwas darin wecken. Die Eltern der Schüler musterten sich verstohlen, ein Blick, fast wie ein stummes Gebet:

„Hoffentlich haben die Kinder es rechtzeitig geschafft.“

Die Spannung war greifbar. Die Luft schwer, als trüge sie einen Fluch wie aus einer Gruselgeschichte. Und dieser Geruch… eine seltsame Mischung aus nassem Ton und Straßenblumen. Ein Duft, zu schön für einen so traurigen Ort. Schön und schmerzhaft — wie eine schlechte Erinnerung, die man in einer Ecke der Seele verstecken will, die aber immer wiederkehrt.

Die Sonne war noch da, leuchtete ahnungslos. Doch ihr Licht war schwach. Verzerrt. Es musste etwas Dichtes durchdringen, um den Boden zu erreichen. Die Schatten, die nur Schatten hätten sein sollen, dehnten sich an den Mauern aus und tanzten, als hätten sie Gliederschmerzen. Und all das führte zu einem einzigen Punkt: der Schule. Ein gewöhnliches Gebäude. Zu gewöhnlich. Vielleicht war das das Erschreckendste.

Denn in dieser Normalität wohnte eine Angst, die man nicht mit Worten erklärt. Nur fühlt. Und die, die sie fühlten — die dort lebten — wussten: Schon der Gedanke an die Schule ließ einen Schauer langsam den Rücken hochkriechen, als streichele jemand mit eiskalten Fingern unter dem Hemd.

Bald erreichten die Gerüchte Goiânia. Reporter tauchten auf, mit modernem Equipment und aufgerissenen Augen. Sie kamen auf der Suche nach Geschichten, nach Schlagzeilen. Aber sie gingen mit leeren Händen. Niemand sprach. Niemand sah ihnen in die Augen. Die ganze Stadt wurde zu Stein.

Geschlossene Münder. Ausweichende Blicke. Eine Stille, die lauter sprach als jedes Interview. Die Stille eines frisch verschlossenen Friedhofs. Ein unausgesprochenes Abkommen, dem mit fast religiöser Präzision gehorcht wurde.

Und so, ohne Beweise, blieben nur die Gerüchte. Bruchstücke von Geschichten, geflüstert zwischen einem Schluck Schnaps und einer Bank auf dem Platz. Immer leise gesprochen. Zeugs von Betrunkenen. Von Verrückten. Oder von denen, die zu viel gesehen hatten und so tun mussten, als hätten sie es vergessen.

Ich will nicht so tun, als verstünde ich den Ursprung des Nebels. Ich will niemanden beschuldigen — weder die Eltern der Kinder, noch jene, deren Unglaube nur eine Maske der Angst war. Sie sagten, mit einem trockenen Lachen, das ihre Unruhe kaum verbergen konnte:

„Die aus der Hauptstadt haben es doch nur auf unseren schwarzen Ton abgesehen.“

Aber ich erinnere mich. Gut. Und was mich bis heute beunruhigt, sind nicht die Worte. Es sind die Augen. Die Art, wie sie das Thema mieden. Die Veränderung in der Stimme. Wie das Gesicht sich verhärtete.

Es war etwas da. Etwas, das nicht in Worte passte. Ein erschrockenes Innehalten. Ein Schatten hinter den Augen. Als trüge jeder von ihnen tief in sich ein kleines Stück des Geheimnisses der Schule — oder gar der ganzen Stadt — und täte doch so, als sei es nicht da.

Diese im Brustkorb eingeklemmte Last, diese unterdrückte Beklemmung, dieses Etwas, das keiner beim Namen nennt, aber alle fühlen — das ist es, was mich zurück zu dieser Geschichte treibt. Denn dort liegt etwas begraben. Und ich muss, sei es nur für mich, herausfinden, was es ist.

Ich bin in Hidrolândia aufgewachsen, umgeben von Geschichten, die größer wirkten als die Stadt selbst. Geschichten, die eigenständig unterwegs waren, an Türen klopften am späten Nachmittag, sich in Hinterhöfen versteckten und in den Zweigen der Mangobäume und Jaboticabeiras flüsterten. Legenden von Menschen, die zu Lehm wurden, von Augen, die zu Stein erstarrten, und von Körpern, die im Wasser des Ribeirão verschwanden, als hätte es sie nie gegeben.

Aber es ist noch nicht an der Zeit, diese Geschichten zu erzählen. Nicht aus Angst — die habe ich hinter mir gelassen. Und auch nicht aus Nachlässigkeit. Es ist nur so: Erinnerungen verlangen manchmal, dass man sie Stück für Stück entblättert. Und das Stück, das sich jetzt aufdrängt, wie eine Gestalt am Straßenrand, ist die Geschichte vom Alten Brunnen. Die Verschwundenen. Das Fehlen, das keiner je erklären konnte.

Ich erfuhr davon eher nebenbei: von Ohr zu Ohr, im langsamen Takt heißer Nachmittage, während mein Großvater in seinem alten Schaukelstuhl döste. Ein vom Leben gebeugter Mann, voller Schweigen und Murmeln, der seine Geister zwischen zwei Zügen seines selbstgedrehten Tabaks entweichen ließ.

Nach dem Mittagessen kaute er langsam an seinem Tabak, die Augen halb geschlossen, das Gesicht ruhig — zu ruhig, als würde er mit jemandem sprechen, den nur er sehen konnte. Der Geruch des Tabaks vermischte sich mit dem Duft der Bohnen vom Herd und dem Staub der Straßen. Und dann, zwischen dem Knarren des Stuhls, sprach er.

Nicht direkt. Nie ein „das ist passiert“ oder „das war wahr“. Es war eher ein Hauch von etwas Altem, ein abgebrochener Satz, ein gemurmelter Name, ein verlorener Blick, der mehr sagte als jedes Wort.

Plötzlich spuckte er in die Ecke der Wand. Immer an dieselbe Stelle. Ein brauner Fleck aus zerquetschtem Tabak, der sich zu den anderen gesellte. Und ich, noch ein Kind, starrte auf diese Flecken wie auf eine Landkarte ohne Legende. Ich wusste: Jeder Spucke war ein schwerer Gedanke. Ein Schrecken, den er sich weigerte, ganz auszusprechen.

Und seine Stimme — diese tiefe, müde Stimme — verschmolz mit dem Knarren des Holzes, mit dem wiegenden Rhythmus der Zeit, bis sie fast zu einem Gesang wurde. Ein Gesang, der die Toten beim Namen rief. Und manchmal schien es wirklich, als kämen die Gespenster Hidrolândias zurück. So wurde ich zum lebenden Archiv der Geschichten dieser Stadt.

***

In den Minuten vor dem letzten Glockenschlag am Nachmittag veränderte sich die Zeit. Das Klassenzimmer zog sich in sich selbst zurück. Jeder von uns hatte bereits sein Mäppchen verstaut, den Rucksack mit einer fast religiösen Sorgfalt geschlossen, als wäre diese einfache Geste eine Art Ehrbezeugung für das, was kommen sollte.

Die Anspannung war ein eigener Körper. Sie atmete zwischen uns. Jeder Gedanke ein gefangener Seufzer. Jeder Blick starr ins Nichts, als wollte man entkommen — vor dem, was wir wussten, aber nicht sagten, dass es passieren würde.

Die Lehrerin sprach nicht. Sie saß da, aber war bereit. Ein Fuß fest auf dem Boden, der andere nur mit der Fußspitze am Boden, die Finger gespreizt, steif, fast wie Krallen. Ihre Augen durchforsteten den Raum, suchten einen Ausgang, wo keiner war. Die Lippen angespannt. Die Hände unruhig. Sie hatte den Ausdruck von jemandem, der selbst als Erwachsene noch auf den Nebel wartete.

Und er kam. Immer kam er. Auch wenn das Fenster geschlossen war, spürte man, wie der Nebel draußen entstand. Ein feuchter Hauch in der Luft. Ein dickeres Schweigen.

Und das war es: das Schweigen. So dicht, dass es wie eine Wand schien. Nicht einmal die Fliegen — selbst die verschwanden in dieser Stunde, als wüssten sie mehr als wir. Das Licht im Raum wurde seltsam, schwach, kam aus einer anderen Welt. Die Schatten verlängerten alles, verzerrten es, und der Geruch von Kreide und Holz mischte sich mit einem anderen Duft. Etwas Tieferem. Ein namenloser Geruch, der den ganzen Körper in Alarm versetzte.

Wir wussten es. Wussten, dass es der Moment war. Der Moment, in dem der Schrecken — derselbe, der durch Hidrolândia geisterte — wieder an der Schule vorbeizog.

In diesem Rahmen trat sie auf. Maria. Zumindest nenne ich sie hier so — nicht aus Erfindung, sondern zum Schutz. Ihr wahrer Name trägt ein Gewicht, das ich nicht zu wiederholen wage. Es wäre, als würde man eine Tür öffnen, die längst hätte versiegelt sein sollen.

Maria war anders als wir. Während alle zitterten, war sie ruhig. Abwesend. Eine Art von Schönheit, die schmerzte. Meine Freunde und ich fanden, dass sie das schönste Mädchen der Stadt war. Aber ihre Schönheit war keine, die verzauberte: Es war eine Schönheit, die warnte. Eine, die „Vorsicht“ sagte, ohne den Mund zu öffnen.

Ihre Augen… braun, aber nicht die Art von Augen, die man leicht ansieht. Sie hatten einen seltsamen Glanz, als hätte sie mehr erlebt, als sie sollte. Und sie wussten. Sie wussten Dinge, die wir uns nicht einmal vorstellen konnten. Und das fesselte mich. Hypnotisierte mich. Verletzte mich.

Ich erinnere mich nicht an die anderen Mädchen der Klasse. Sie waren nett, freundlich, aber sie verschwanden im Hintergrund der Szene. Sie hatten nicht diesen grausamen Magnetismus, den Maria in sich trug. Sie waren lau. Und ich erinnere mich an eine Predigt des Priesters — an einem dieser heißen Sonntage —, als er sagte, dass Gott die Lauwarmen ausspucke. Ich dachte daran, als ich Maria ansah. Sie war nicht lau. Sie brannte. Kalt von außen, aber mit einem inneren Feuer — diabolisch, eines, das man erst spürt, wenn es zu spät ist.

Der Flur spannte die Spannung bis an ihre Grenze. Niemand wagte es, den Kopf zu heben. Alles schien kurz vor der Explosion, aber niemand wusste genau, was. Geflüster, hastige Schritte, das Knarren von Stühlen, das dumpfe Schleifen von Rucksäcken. Die Luft roch stark nach Reinigungsmittel, vermischt mit dem Schweiß der Schüler — ein Angstgeruch, getarnt als Alltag.

Die Schatten nahmen weiter alles ein, warfen sich an die Wände mit eigenem Willen. Einige schienen niemandem zu gehören — sie tanzten allein, unruhig, als wüssten sie etwas, das wir noch nicht verstanden. Und vielleicht wussten sie es wirklich, denn ihr Tanz war wie eine Warnung. Eine Einladung zur Flucht.

Und da sah ich Maria.

Sie war da, wie sie immer gewesen war — und doch anders. Mit grausamer Gelassenheit nahm sie Münzen aus den zitternden Händen eines Jungen entgegen. Der arme Kerl bebte innerlich wie äußerlich. Seine Augen voller jener Verehrung, die nur Narren und Poeten kennen. Seine Stimme versagte. Und als sie sich umdrehte und ihn dort stehen ließ, mit dem Kloß im Hals, wunderte sich niemand. Nicht sie. Nicht er. Nicht die Welt.

Sie ging auf mich zu mit fester Leichtigkeit, das Haar wehte, als gehorchte der Wind nur ihr. Und ihre Augen — ach, diese Augen — sie fesselten mich auf seltsame Weise. Als sähen sie mich ganz. Nicht nur von außen, sondern auch das, was sich in mir versteckte, tief in den Falten meiner Seele.

Sie blieb vor mir stehen. Nahm meine Hand mit einer eiskalten Zartheit. Und sagte:

— Komm mit mir. Und stell keine Fragen.

Ihre Stimme war leise, aber darin lag etwas Unwiderstehliches. Ein Befehl und ein Rätsel. Eine Einladung, durch eine Tür zu treten, ohne zu wissen, was dahinter ist — und es trotzdem zu wollen.

Vier Jahre lang hatten wir in derselben Klasse gesessen. Kein Wort miteinander gewechselt. Und jetzt war sie da, zog mich mit sich, als wüsste sie genau, was sie tat — und ich folgte, wie jemand, der keine Wahl hat.

Ein Schauer fuhr mir über den Rücken. Nicht aus Angst, sondern aus einem seltsamen Gefühl, aus mir selbst herausgerissen zu werden. Trotzdem ging ich mit.

Bevor ich ging, warf ich einen letzten Blick zurück auf den Jungen, den sie zurückgelassen hatte. Er lehnte an der Tür zum Lehrerzimmer, zerschmettert. Die Schultern hingen, das Gesicht war gerötet, und um ihn herum ein Chor von Gelächter — kein gutes. Gelächter voller Gift. Jene Art, die den Spott der Mitgefühl vorzieht.

Damals solidarisierten sich die Schüler nicht. Sie lachten lieber. Vielleicht war es ein Schutz. Vielleicht war es Grausamkeit. Es war eine Zeit ohne Zwischentöne: Entweder man lachte — oder man weinte. Und wer weinte, hatte verloren.

Wir rannten bis zum Schultor. Sprangen. Fielen in ein Beet aus verwelkten Blumen, deren zerquetschte Blütenblätter einen bittersüßen Geruch nach frischem Schmerz verströmten. Dornen ritzten die Haut. Der Körper versuchte noch zu begreifen, was geschah.

Doch ich dachte nur an den Jungen — und daran, wie wenig Zeit ihm wohl blieb, um zu entkommen. Ich blickte zurück.

Die Schule wurde verschlungen.

Das Licht des späten Nachmittags, das noch Minuten zuvor den Hof in goldene Töne getaucht hatte, begann zu verblassen. Der Nebel — jener Nebel — war schon da, wuchs wie eine Krankheit. Er durchdrang die Mauern, verschlang die Fenster, löschte das Blau der Wände aus. Und obwohl es heller Tag war, schien die Schule in eine Nacht zu fallen, die nicht vom Himmel kam.

Eine Nacht, die aus ihrem Inneren stieg.

Mit jedem Schritt, den wir machten, schien das Geräusch unserer Füße ferner. Als hätte die Straße das Echo verschluckt. Oder als hielte die Welt selbst den Atem an, wartend — worauf, wussten wir nicht. Aber es war nichts Gutes.

Einige Minuten später saßen wir am Bordstein, zogen Dornen aus den Hosenbeinen und Kletten aus den Ärmeln. Der Geruch der zerdrückten Blumen klebte noch in der Nase, zu süß, um beruhigend zu sein. Maria zupfte jeden Dorn mit einer Gelassenheit heraus, die mich irritierte. Ich konnte kaum atmen.

Da hörten wir es.

Den Schrei.

Ein so gellender, verzweifelter Laut, dass er den Nachmittag durchriss und mein Blut gefrieren ließ. Ein Schrei, der klang, als käme er aus dem Innersten der Erde — oder aus einem Ort, an dem Schmerz geboren wird. Ich sah zur Schule.

Die Szene wirkte wie aus einem Albtraum, wie eine jener Geschichten, die mein Großvater mit geschlossenen Augen erzählte. Das Schultor öffnete sich langsam, und aus ihm trat etwas, das nicht ging — es glitt. Ein dichter Schatten, die Kontur eines Jungen aus dunklem Rauch, bewegte sich, als tanze er mit der Leere selbst.

Die Straße, eben noch gewöhnlich, wurde anders. Schmaler. Dunkler. Als zöge sich die Welt zusammen, um diesem Gespenst den Weg zu bereiten.

Die Schatten, die ihn umgaben, begannen sich langsam zurückzuziehen, Platz zu machen für das, was hinter ihnen kam. Und dann, im letzten schwachen Licht der Sonne, erschien ein Junge.

Oder etwas, das einem Jungen ähnelte.

Er war durchsichtig. Die Haut zu blass. Die Augen hohl, verloren, ohne Glanz. Als wäre ihm das Leben sorgfältig entnommen worden — ohne Blut, nur mit Abwesenheit. Ich erstarrte.

Das Bild brannte sich in mich ein. Ich wusste nicht, ob es Angst oder Erkenntnis war, aber etwas in mir flüsterte, dass ich ihn kannte.

„Es ist nur ein optischer Irrtum“, dachte ich. Ich wollte es glauben. Rieb mir die Augen, wollte das Bild vertreiben. Doch es blieb. Klarer. Wirklicher.

Und dann erkannte ich es.

Dieser Junge war derselbe aus dem Flur. Der, der um die Münzen weinte. Der Verliebte. Doch jetzt, entkleidet von allem: von Farbe, von Liebe, von Menschlichkeit. Die Haut, die Haare, selbst die Augen — alles verblasst, von innen ausgewaschen.

Er machte ein paar Schritte auf uns zu. Steif. Langsam. Und blieb vor Maria stehen.

Sein zuvor verlorenes Gesicht veränderte sich. Die Augen verengten sich. Der Kiefer verkrampfte. Und Zorn übernahm das, was von seinem Ausdruck übrig war. Der ganze Schmerz der Welt schien sich darin zu sammeln. Er war nicht nur ein Geist. Er war ein ganzer Schrei, gefangen in einem Körper, der längst keiner mehr war.

Die Luft um uns wurde schwerer. Alles wurde dichter. Selbst die Zeit schien Angst zu haben, weiterzugehen.

Maria jedoch wich keinen Schritt zurück.

Und dann begann etwas noch Unheimlicheres.

Maria sah ihn an, mit einem leichten, fast spöttischen Lächeln. Es ließ mich erschauern. Als wüsste sie etwas, das weder ich noch das Wesen vor ihr kannten. Ein Geheimnis des Nebels, verborgen tief in der Brust oder den Wurzeln des Bodens.

Ich rieb mir erneut die Augen, in der Hoffnung, beim Öffnen würde alles wieder an seinem Platz sein: die Straße, das Licht, die vertrauten Geräusche der Schule. Aber was ich sah, stand in keinem Buch. War in keiner Geschichte meines Großvaters. Nicht einmal in meinen schlimmsten Träumen.

Der Geisterjunge verfluchte Maria — Worte, durchtränkt von rohem, uraltem Schmerz, unaussprechlich. Dann hob er die Arme zum Himmel, als wollte er Kraft aus dunklen Wolken schöpfen.

Und dann geschah es.

Aus seiner Haut begann dunkler, dichter Rauch zu steigen. Erst aus den Augen, dann aus den Poren — als wäre sein Körper von innen wie glühende Kohle. Der Rauch stieg langsam auf und nahm die Form einer Sturmwolke an, mit Blitzen darin. Ein bitterer Geruch erfüllte die Luft. Etwas zwischen Verbranntem und Verwesung. Ein Geruch, als käme er aus dem Innern der Erde.

Der Körper des Jungen zerfiel zu Staub. Kein leichter Staub. Schwer wie getrockneter Ton. Dunkelgrau. Und bevor der Wind ihn davontragen konnte, bildete sich ein Wirbel aus dunklem Nebel, durchsetzt mit zuckenden Lichtpunkten — als wären Blitze darin gefangen. Der Nebel umschloss ihn vollständig. Und dann verschwand er — zurückgesogen in die Schule, die nun ganz von Dunkelheit verschlungen war.

Das Geräusch, das folgte, war nicht menschlich. Es klang wie etwas Lebendiges — aber nicht wie wir leben. Es erinnerte an das Krächzen von Raben in Horrorfilmen, nur tiefer. Schwerer. Ein Laut, der das Gefühl vermittelte, die Realität selbst reiße langsam auf.

Alles um mich brach zusammen. Der Verstand wusste nicht mehr, was Boden war. Was möglich. Was Traum. Ich fiel — und stand still.

Und in diesem Schwebezustand spürte ich die Hand. Kalt. Fest. Die sich von hinten an meinen Arm klammerte. Der Schreck durchzuckte mich. Die Kehle schnürte sich zu. Die Brust wurde eng. Als wollte ein Schrei heraus, aber steckte irgendwo in der Wirbelsäule fest.

Ich drehte mich um, im festen Glauben, es sei das Ende.

Aber es war Maria.

Ruhig. Unerklärlich ruhig. Nur ihre Augen verrieten etwas — da war ein seltsames Licht in ihnen. Ein Glanz, der nicht zu ihr gehörte. Oder vielleicht immer schon da war, und ich sah ihn jetzt erst.

Ohne ein Wort zog sie mich mit sich. Wir rannten. Unsere Schritte schlugen hart auf den Boden, vermischten sich mit dem Wind und den Schreien, die durch die Stadt hallten, als würde alles um uns herum aufbrechen.

Wir liefen die Avenida Antônio Mendonça hinab, das alte Kopfsteinpflaster schien unter unseren Füßen zu stolpern. Die Sonne, die sich noch am Himmel hielt, stand tief und warf ein orangefarbenes Licht, das lange, beinahe menschliche Schatten hinter uns zeichnete. Ich hatte das Gefühl, als würden sie uns folgen. Als hätten sie eigene Beine.

An einer kleinen Ecke hielten wir vor einem Tante-Emma-Laden. Der Ort war traurig, wirkte erschöpft. Die Farbe blätterte von den Wänden, und die Luft war ein Gemisch aus Moder und überreifem Obst. Ich blieb draußen, benommen, versuchte zu begreifen, was noch wirklich war.

Maria ging hinein. Blieb eine Weile verschwunden. Kam dann mit einer kleinen Tüte zurück, und ich fragte nicht, was darin war. Sie kam lächelnd auf mich zu, als wäre alles ganz normal, und umarmte mich um die Taille.

Wir gingen weiter.

Sie ging leichtfüßig. Als wären wir nur von einem Spaziergang zurück. Ihre Augen glänzten, ihre Haut war warm an meiner Seite. Und ich? Ich war ein Haufen Fragen auf zwei Beinen.

Ich versuchte zu sprechen. Die Frage kam zitternd:

— Maria… was war das…?

Aber sie unterbrach mich. Ein Schubs gegen die Schulter. Ein leichtes Zwicken, fast zärtlich.

— Bleib ruhig und still. Du wirst es erfahren, — sagte sie und wandte den Blick ab.

Wir folgten dem Weg bis zur Alameda das Grimpas. Bogen nach links ab. Dort war die Quelle. Und der Brunnen. Der Ribeirão. Das Herz der Legenden.

Die Nacht kroch bereits heran. Ein kalter Wind streifte uns sanft, flüsterte durch die kahlen Äste. Die Blätter rührten sich nicht. Es war ein Wind, der mit uns ging. Uns umgab. Flüsterte. Auch die Nacht schien neugierig.

Wir erreichten das Ufer der Quelle, und dort war die Welt eine andere. Quaken, Trillern, Wispern mischten sich mit dem Geräusch des Wassers — die Nacht selbst bekam eine Stimme. Die Laute kamen vom anderen Ufer, wie ein Ruf.

Das Wasser spritzte an meine Beine. Kalt. Eine Warnung. Ich blickte hinab. Der Wasserfall zerschellte am Boden, rann den Hang hinunter, entschlossen, den Alten Brunnen zu erreichen.

Maria kam näher. Ohne Scheu. Legte ihr Gesicht an meins, ihre Lippen streiften meine Haut in einem frostigen Kuss. Dann sah sie mir in die Augen, mit einer Ernsthaftigkeit, die alles um uns herum erstarren ließ.

— Wir müssen beenden, was wir begonnen haben — flüsterte sie.

Es war keine Einladung. Es war ein Urteil. Und ich wusste nicht, wovon sie sprach. Vielleicht wusste ich es — aber ich wollte es nicht wissen.

Mein Kopf war voller Nebel. Jeder Gedanke löste sich auf, bevor er Form annehmen konnte. Doch meine Füße bewegten sich. Ich folgte Maria, als würde sie mich von innen ziehen. Zusammen stiegen wir den Hang hinab, hielten an am Ufer des Alten Brunnens.

Das Wasser dort war kein Wasser. Es war etwas anderes. Dunkel. Dickflüssig. Voller Stimmen.

Am Rand lag ein großer, moosbedeckter Stein, der den Eingang eines Tunnels verbarg — ein dunkles Loch unter der Brücke der BR-153. Die Strömung, eben noch ruhig, wurde dort wild. Roh. Wie ein Protest gegen das, was dort geschah.

Die Gischt zerplatzte an den Steinen wie erstickte Seufzer. Der Brunnen wollte warnen: Geh nicht hinein.

Ich war schon einmal hier gewesen. Nur einmal. Als Kind. Die Sonne versteckte sich hinter schweren Wolken, und selbst mit Menschen in der Nähe jagte mir der Ort einen Schauer über den Rücken. Ich kehrte nie zurück. Und nun war ich wieder hier. Mit Maria. Als wäre es Schicksal — oder Strafe.

Man sagte, der Tunnel verschlucke Menschen. Dass er sie verschwinden ließ, wenn sie hindurchzugehen versuchten. Man sagte, bei Vollmond höre man Schreie von dort. Dass jene, die zurückkamen, anders zurückkamen. Grau von innen und außen. Wie Wesen aus grauem Lehm.

Man nannte sie Lehmleichen.

Sie wanderten umher, ziellos, namenlos, leblos. Nur die Spur des Fluchs blieb, wie Staub auf den Gehwegen der Schule.

Und dort standen wir nun.

Maria blickte auf den Tunnel mit Hunger in den Augen. Als sähe sie etwas, das ich nicht sah. Als würde sie gleich etwas füttern, das dort drinnen lebt.

Ich zitterte. Doch konnte nicht gehen.

Das Bild der alten Leute im Heim, wie sie nachts schrien, drängte sich mir auf. Die Geräusche, die von der anderen Seite der Stadt kamen, vermischt mit den Schreien der Lehmleichen, die über die Bürgersteige der Schule krochen — sie formten ein Lied voller Schmerz und Wahnsinn. Eine Melodie, die sich in den Ohren der Seele festsetzte.

Ich versuchte, die Gedanken zu vertreiben. Schüttelte den Kopf. Doch sie griffen nach mir, von innen. Wie unsichtbare Klauen.

Das Rascheln von Papier holte mich zurück. Maria öffnete die Tüte. Holte etwas heraus, eingewickelt in Zeitungspapier.

Es war Trockenfleisch.

Aber nicht wie das aus der Metzgerei. Es war zu dunkel. Zu fettig. Es roch nach etwas Totem. Nach etwas, das nicht berührt werden sollte. Das getrocknete Blut glänzte in dicken Fäden. Das gelbliche Fett durchzog das Fleisch, als würde es noch leben.

Ich hielt mir die Hände vor Mund und Nase. Der Geruch machte mich krank. Die Konsistenz empörte mich.

Das war keine Nahrung. Es war eine Opfergabe.

Maria riss das Fleisch mit geübten Bewegungen auseinander. Ihre Finger, nun fast Klauen, zerteilten die Stücke mit tierischer Präzision. Eines nach dem anderen warf sie in den Brunnen. Und jedes neue Stück schien das Wasser zu wecken — anfangs nur ein paar Bläschen, dann mehr, bis der ganze Brunnen zu kochen begann. Als würde er atmen. Als fühlte er.

Die Nacht, vorher still, begann zu vibrieren. Das Geräusch der Blasen war stetig, eindringlich, wie das Knurren eines gequälten Wesens. Selbst der Wind verstummte, als hielte die Welt den Atem an.

Und in diesem Moment packte Maria mich.

Ohne Zögern. Nur Kraft. Eine Kraft, die in ihrem mageren Körper keinen Platz zu haben schien. Sie riss mich mit Gewalt ins Wasser. Und ehe ich es begriff, war ich schon untergetaucht — umgeben von der Hitze der Blasen und der beißenden Kälte aus der Tiefe.

Ich sank.

Das Wasser schien lebendig. Marias Klauen zogen mich mit Wut hinab. Ich versuchte zu schwimmen. Mich zu wehren. Aber sie hielt mich fest. Aus dem Grund des Brunnens stiegen Lichtblitze auf — kurz, pulsierend. Der Brunnen war nicht mehr nur ein Abgrund: Er war das Zuhause leuchtender Geister. Maria weinte. Ihre Augen auf mich gerichtet. Ihr Atem… chaotisch. Die Bewegungen hart. Kalt. Wie jemand, der eine Pflicht erfüllt. Eine Mission.

Mein Körper wurde schwer. Die Dunkelheit schloss sich. Mein letzter Gedanke, bevor ich den Kampf verlor, war Marias Gesicht — verzerrt, mit einem Licht in den Augen, das nicht ihr gehörte. Und ihr Lächeln… schief. Schräg. Das Lächeln einer, die Wut in den Eingeweiden trägt.

Ich konnte mich befreien.

Ich weiß nicht wie. Vielleicht der pure Überlebenswille. Oder der Teil von mir, der noch leben wollte. Ich stieß sie mit den Füßen nach unten und tauchte auf. Durchbrach die Oberfläche und sog die Luft ein mit weit geöffnetem Mund, die Lungen brannten wie Feuer.

Der Mond war verschwunden.

Die Dunkelheit war vollkommen. Der Brunnen, eben noch brodelnd, bebte nun — kleine Wellen formten sich, als ob etwas da unten sich rührte, bereit, emporzusteigen.

Ich schwamm. Als wäre es das Letzte, was ich tun würde. Erreichte einen glitschigen Felsen fast in der Mitte des Brunnens. Klammerte mich daran mit aller Kraft. Erbrach mich. Hustete das dunkle Wasser aus wie Gift. Jeder Husten brachte mehr Angst. Mehr Gewissheit, dass ich nicht allein war.

Dann spürte ich es.

Es war keine Einbildung. Es war Berührung. Fest. Heiß. Beinahe wie Glut.

Eine Klaue.

Sie packte mein Bein mit Wucht. Scharfe Nägel, raue Haut. Schuppen. Es war, als würde ich aus einem Albtraum herausgezogen. Doch ich war wach. Ich spürte alles.

Ich schrie.

Der Schrei zuckte wie ein Blitz durch die Nacht. Zerriss die Dunkelheit. Schnitt durch die Bäume. Rollte über die Hügel. Und man sagt — ja, man sagt es noch heute —, er war so laut, so voller Schmerz, dass alle Hunde der Gegend gleichzeitig heulten. Als hätten sie in diesem Laut den Tod erkannt.

Ich trat zu. Mit allem, was ich hatte.

Und dann sah ich es.

Es war Maria.

Oder das, was von ihr übrig war.

Ihr Gesicht war blutverschmiert. Die Augen rot, fast aus den Höhlen gedrängt. Die Haare klebten an der Stirn. Aber das war nicht das Schlimmste. Was mir den Atem raubte, war nicht das Blut, nicht ihr Blick. Es war das Fehlen. Die Abwesenheit von Menschlichkeit.

— Lass mich los! Lass mich los! Bist du verrückt?! Willst du mich umbringen?!

Meine Stimme war brüchig. Mehr Angst als Worte.

Sie sah mich an. Und antwortete, als würde sie über einen gewöhnlichen Spaziergang sprechen:

— Du bist bereits tot. Erinnerst du dich nicht? Deine Seele blieb im Flur der Schule. Du hast mich bezahlt, um deinem traurigen Leben ein Ende zu setzen. Jetzt gehört dein Körper den Kreaturen des Alten Brunnens. Jenen, die von hier unten über die Welt da oben herrschen.

Sie krallte ihre Nägel in mein Bein.

Der Schmerz durchfuhr mich. Und mit ihm kam die Wahrheit. Ein Schlag in die Bewusstheit. Eine Offenbarung, die keine Erlaubnis brauchte.

Ich war es.

Der Junge im Flur. Der Verliebte. Der Verlassene. Der vergessene Schatten.

Ich war es.

Ein Teil von mir, der dort geblieben war, an die Tür zum Lehrerzimmer gelehnt, umgeben von Hohn und Gelächter. Und dieser Teil wuchs ohne mich weiter. Verfaulte. Wurde zur Legende. Wurde zu Opferfleisch.

Die Realität zerbrach wie ein nasser Spiegel. Und jeder Splitter spiegelte eine verzerrte Erinnerung. Die Vergangenheit bewegte sich. Die Gegenwart löste sich auf. Und ich — ich wusste nicht mehr, wer ich war.

Ich blieb stehen, sah Maria an.

Und tief in mir tat nicht der Verrat am meisten weh. Es war das Wiedererkennen.

Sie wusste es.

Von Anfang an wusste sie es.

Ich blickte erneut zu ihr. Ihr einst engelsgleiches Gesicht, nun entstellt und blutverschmiert, begann sich zu verändern. Die Züge des Hasses lösten sich langsam auf, machten Platz für Reue, Schuld, Mitgefühl. In jenem Körper, der sich in eine Kreatur des Brunnens verwandelt hatte, tobte ein innerer Kampf. Etwas Dunkles, das versuchte, sie vollständig zu beherrschen.

Aus ihren Augen, die unter dem Mantel der Finsternis leuchteten, rollten langsame Tränen. Als sie sich mit dem Blut vermischten, entstand eine tiefe, dichte rote Spur, die über ihr Gesicht rann und ins Wasser tropfte. Und der Brunnen — immer der Brunnen — reagierte. Er wogte auf, als würde er diesen Schmerz erkennen, als würde jede Träne die Oberfläche durchschneiden und etwas im tiefsten Grund berühren.

Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen.

Maria hob ihr Gesicht. Ihre Augen fanden die meinen. Und darin lag eine Art von Reue, die sich nicht in Worte fassen lässt — nur fühlen. Ein tragischer Abschied. Eine stumme Bitte um Vergebung.

Sie ließ meine Beine los.

Ihre Stimme, als sie kam, war schwach, aber so fest wie ein Urteil:

— Lauf. Rette dich. Hol dir deine Seele zurück.

Und dann, mit diesen Worten, die zugleich Segen und Fluch waren, breitete sie die Arme aus und ließ sich rücklings in das brodelnde Wasser fallen.

Während sie sank, winkte sie.

Auf ihren Lippen ein trauriges Lächeln. Schön. Fast friedlich.

Sie schloss die Augen.

Und verschwand — verschlungen von den Kreaturen, die in den Tiefen wohnen.

Ich war allein. Durchnässt. Zitternd. Am Rand des Alten Brunnens, wo Realität und Albtraum keine Grenze mehr kannten. Alles war Schatten und Verwirrung. Doch eines fühlte ich mit Klarheit — etwas in mir war zerbrochen. Oder wiedergeboren. Und tief in mir wusste ich: Das war kein Ende.

Ich wartete. Die Brust noch im Aufruhr, der Körper vibrierte im Takt der Angst. Dann sprang ich vom Felsen. Jeder Muskel gespannt vor dem Ungewissen. Ich tauchte ins Wasser, das mich mit der Kälte spektraler Finger umfing. Ich schwamm. Kurze, verzweifelte Züge. Der Geruch von Schlamm und etwas anderem — etwas Schrecklichem, Lebendigem, Hungrigem — durchdrang die Luft.

Der Wald flüsterte. Und ich hörte.

Ich rannte. Die nassen Kleider klebten an meiner Haut, meine Füße schlugen hart auf den Boden, als wollten sie vergessen, worauf sie getreten waren. Mein Atem zerschnitt die Nacht. Die Schultore waren verschlossen. Draußen krochen die Lehmleichen über die Gehwege. Ihre verdrehten Körper bewegten sich mit einer kranken Anmut.

Ich sprang über die Mauer der Schule und trat ein. Die Angst war längst hinter mir — oder zu etwas anderem geworden.

Der Nebel verschlang mich langsam. Die Feuchtigkeit ließ den Boden rutschig werden, und jeder Schritt war wie auf der Haut eines schlafenden Tieres. Dann bemerkte ich: Meine Kleidung, noch triefend nass, begann sich zu verändern. Sie wurde schleimig, bekam einen seltsamen Glanz — als wohnte jetzt der Blitz des Nebels in mir.

Ich riss alles von mir. Warf es in die Dunkelheit. Und ging weiter.

Im Flur, ausgestreckt neben dem Lehrerzimmer, sah ich etwas, das wie aus mattem Glas gemacht schien. Es war eine Silhouette. Eine durchscheinende Präsenz.

Es war meine Seele.

Ich schwankte. Der Boden vibrierte unter meinen Füßen. Die Luft war zu dicht zum Atmen. Ich sank auf die Knie. Das fahle Licht der Deckenlampen schnitt meinen Schatten in die kalten Fliesen. Und dort, vor mir selbst, umarmte ich, was übrig geblieben war — und bat um Verzeihung.

Für das Verlassen. Für die Flucht. Dafür, dass ich versucht hatte, aufzugeben.

Der Schmerz, den ich begraben wollte, war ein schwarzes Loch. Und ich war kurz davor gewesen, mich hineinziehen zu lassen.

Maria wurde nie wieder gesehen.
Es gab keine Suche. Kein Aufsehen. Keine Notiz in der Zeitung der Stadt. Für alle schien sie einfach aufgehört zu existieren. Als hätte sie niemals einen Fuß nach Hidrolândia gesetzt. Aber ich wusste es. Ich wusste, dass sie, irgendwo in den dunklen Tiefen des Brunnens, zwischen Schichten aus lebendigem Ton und dem Klagen der Kreaturen, noch da war. Nicht als Strafe. Sondern aus Entscheidung: Leben oder Verzicht.

Und ihr Gesicht — das mich einst fasziniert und später geängstigt hatte — wohnte nun in mir. Mit der tragischen Zartheit eines Bedauerns ohne Rückweg. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihr Abschiedslächeln. Wenn ich sie öffne, spüre ich ihre Abwesenheit wie einen kalten Wind, der mir die Wirbelsäule hinaufzieht.

Seit jener Nacht war etwas in der Stadt zerbrochen.

Die Lehmleichen wurden zahlreicher. Sie begannen ziellos durch Gassen, über Gehwege und um die Schule zu streifen. Doch niemand sprach über sie. Die Erwachsenen wandten den Blick ab. Den Kindern wurde beigebracht, nicht zu fragen. Und ich… ich beobachtete.

Der Schrecken verschwand nicht.
Er setzte sich.

Er nistete sich ein wie Schimmel in den Mauern des Gedächtnisses. Die Schule, der Alte Brunnen, die gepflasterte Allee – alles blieb bestehen. Doch mit einem matten, glanzlosen Schimmer. Als wäre die Zeit weitergegangen, aber mit den Narben einer schlecht verheilten Wunde.

Und ich?

Ich ging fort.

Floh aus der Stadt, wie jemand vor sich selbst davonläuft. Ich tauschte die Landschaft, den Namen, den Tagesablauf. Aber es nützte nichts. Denn ich nahm das mit, was mich am meisten heimsuchte: die Erinnerung an das, was ich war. Oder das, was ich verloren hatte.

Ich verbrachte mein Leben auf der Suche nach Zeichen. Nach einer Erklärung, die das Erlebte erträglich machte. Ich trat in Kirchen, Bibliotheken, Tempel, Praxen. Kein Heiliger, kein Buch, keine Diagnose konnte erfassen, was mit mir geschehen war.

Denn was mir geschah… das war ich selbst.

Ich hatte mich verloren.

In jenem Flur. In jener Schule. In jener unerwiderten Liebe. In jenem Schmerz, den ich verschwiegen hatte. Meine Seele war dort geblieben, an die Wand gelehnt, während der Rest von mir die Tage durchschritt wie ein Körper ohne Inneres.

Und selbst jetzt, Jahrzehnte später, wenn ich aus dem Fenster sehe und das Mondlicht zwischen den Ästen einer fremden Stadt gefiltert wird, frage ich mich immer noch: Habe ich sie wirklich zurückgeholt?

Meine Seele.

War jene Umarmung mit dem Ich, das ich im Flur fand, genug, um wieder ganz zu werden? Oder habe ich nur einen weiteren Geist erschaffen?

Vielleicht deshalb schreibe ich.

Vielleicht deshalb existiert dieser Bericht.

Nicht als Exorzismus. Sondern als Vermächtnis.

Eine Warnung.

Ein gedämpfter Schrei an jene, die sich dem Ribeirão das Grimpas nähern in der Hoffnung auf Reinigung, Erlösung oder Vergessen: Es gibt Orte, die das, was sie nehmen, nicht zurückgeben. Und es gibt Schmerzen, die lieber weiterleben — im Schweigen.

Maria wusste das. Ich nicht.

Mit jeder neuen Stadt ein neuer Anfang — und mit ihm dieselben Geister.

Die Menschen fanden mich zu still, zu verschlossen, zu nachdenklich. Sie sagten, ich hätte „Augen, die Dinge gesehen haben“. Und sie hatten recht. Aber wie soll man erklären, was man selbst kaum begreift? Wie sagen, dass das Tropfen eines Wasserhahns mich zurück zur Quelle bringt? Dass der Geruch von nasser Erde mich erzittern lässt, als hätten sich die Klauen des Brunnwesens wieder in meine Beine gebohrt?

Es waren Jahre, in denen ich lebte wie ein Schatten meiner selbst — jemand, der den eigenen Tod überlebte, aber nie wieder lernte, zu leben. Der Schrei des verliebten Jungen, Marias Blick, der sich im Wasser auflöste, der Wirbel aus dunklem Nebel… all das wurde Teil meines Fleisches. Ich war nicht mehr ein Körper, der seine Seele suchte. Ich war das Fehlen selbst, das Sinn zu finden versuchte.

Erst Jahre später — viel später — verstand ich, was es hieß, die Seele zurückzuholen.

Es bedeutete nicht, die Zeit zurückzudrehen. Noch weniger, das Geschehene ungeschehen zu machen.

Es bedeutete, zu akzeptieren. In den Spiegel zu schauen und zu sagen: „Ich bin geblieben.“

Und mir die Hand zu reichen.

Und mich zurückzuholen.

Heute schreibe ich das wie jemand, der sich selbst einen letzten Brief hinterlässt. Nicht aus Sehnsucht. Auch nicht zur Erlösung. Sondern aus einer gewissen Verpflichtung gegenüber dem Gedächtnis — meinem, und dem derer, die wie ich den Schrecken durchquert haben mit offenen Augen und gebrochenem Herzen.

Und selbst nach all dem Rennen, dem Durchqueren von Städten, Meeren und Sprachen — selbst nach tausend neuen Identitäten, zerrissenen Pässen, Therapien und Schweigen — fand ich am Ende des Weges immer denselben Blick: meine eigenen Augen in fremden Gesichtern, meine Ängste in städtischem Nebel, meine Echos in Schulkorridoren, die nicht mehr die von Hidrolândia waren, aber immer noch denselben Geruch von Jasmin und Ton trugen.

Ich verstand schließlich: Nicht die Stadt hielt mich fest.

Nicht Maria. Nicht der Brunnen. Ich war es selbst.

Ich war der Brunnen, der Nebel, der Junge im Flur, der Geflohene, der Sterbenwollende und der, der zurückkehren wollte.

Die Stadt blieb zurück. Aber der Schrei — jener Schrei, der die Nacht zerriss und die Hunde zum Heulen brachte — der lebt weiter in mir.

Denn die Wahrheit, die schmerzlichste von allen, ist: Der Schrecken von Hidrolândia — mit seiner verfluchten Schule, seinem dunklen Wasser, seinen Lehmleichen — war nichts… nichts im Vergleich zum Grauen, ein Leben lang mit meinem größten Feind zu leben: mir selbst.

Und solltest du eines Tages nach Hidrolândia kommen, geh vorsichtig.

Lehne dich nicht an die Mauern der Schule. Näher dich nicht dem Alten Brunnen. Und nimm unter keinen Umständen Münzen von einem Mädchen mit braunen Augen und fester Stimme an.

Eber Urzeda dos Santos

aus dem Portugiesischen übertragen und literarisch bearbeitet

Nürnberg – 17.10.2017

Erzählung – Der Schrecken von Hidrolândia

Sammlung: Dunkelheiten des Ich

„Dies ist ein Werk der Fiktion. Jegliche Ähnlichkeit mit Namen, Personen, Ereignissen oder Situationen des wirklichen Lebens wäre reine Zufälligkeit.“

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